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Rezension – Karin BOJS “Meine europäische Familie”

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Da entwickelt sich ein neues Betätigungsfeld auf dem sich zum einen Wissenschaftler (Biologen, Genetiker, Archäologen und Historiker) tummeln und dann ergänzt werde duch all jene sogenannten Familienforscher (Hobby, Amateur) die Stammbäume anlegen, und heuer eben zusätzlich einen Gentest anfertigen lassen um über so gewonnene genetische Daten zu sehen was diese Analyse ergibt.

Die Autorin hat sich selbst, bei einer Grenzsituation die sie als die Beerdigung ihrer Mutter ausmacht,  die Frage gestellt “wo komme ich eigentlich her”, “wer waren meine Vorfahren. Sie kommt als Wissenschaftsjournalistin gut gerüstet und erfahren daher um diese Entdeckungsreise zu unternehmen und virtuell den Leser sie begleiten zu lassen. Und die Forschungsfrage ist spannend, weil sie bisweilen noch nicht abschließend beantwortet wurde. Sind die Erkenntnisse der traditionellen Archäologie in Stein gemeisselt oder zeigt die Genetik neue Erklärungsmuster für die Siedlungsgeschichte, die Vermischung von Völkern, insbesondere Lebensstile von Jäger und Bauern. 

Der vorgelegte Text spiegelt den aktuellen Forschungsstand wieder , erscheint sorgfältig recherchiert, wird ausgiebig reflektiert und diskutiert, und dem Leser ergeben erschließen sich immer mehr Elemente die das Puzzle lösen helfen, wenn auch das komplette Bild noch lange unklar bleiben und insbesondere die Genetik bisweilen geglaubte Erkenntnisse invalidieren könnte. 

In dem von Karin Bojs vorgelegten Buch geht es also darum über die bekannte oder vermeintliche Siedlungsgeschichte der Völker (in Europa und den Nahen Osten) über einen Zeitraum von 50.000 Jahren zu verstehen wer mit wem verwandt ist. Es begann mit Jägern und Sammlern, dann kamen Bauern und Sesshafte. Wie sich über Zeit Jäger und Bauern treffen und zum Teil vermischen soll die Genetik entschlüsseln helfen. 

Die Autorin nimmt den interessierten Leser-in mit auf eine Reise, bei der es darum geht zu belegen dass die Erkenntnisse der Genetik die archäologischen Funde quer durch Europa zu validieren vermögen. Karin Bojs hat die Strapazen auf sich genommen viele für diese Forschungsfrage relevanten Orte zu besuchen, hat mit ausgewählten Experten, Spezialisten und anerkannten Forschern gesprochen, sie interviewt, und als selbst persönlich Interessierte aber auch in Kenntnis der wissenschaftlichen evidenzbasierten Literatur zum Thema gibt sie immer wieder ihre eigenen Einschätzungen zum Besten, und dies auffallend ohne jegliche Polemik. 

So ist dieses Buch ein Sachbuch immer wieder, aber im Stil angenehm eine Erzählung, nicht zuletzt ein Reisebericht der viele archäologisch bedeutsame Orte in Europa abdeckt (erfreulicherweise wird auch der Homo Sapiens Mann vom Loschbour LU erwähnt), inklusive den Nahen Osten, aber insbesondere Skandinavien. 

Wo kommen wir her, wie sind wir miteinander verwandt, wer hat wen verdrängt, und dies aus welchen und wie gearteten Gründen? Es geht auch um soziokulturelle Faktoren die in dieser Gleichung zum Zuge kamen. Technologien, Zugang zu Ressourcen, Erfindungen die einen Vorteil generierten, Machtgebilde und Strukturen, die Frage welche Völker oder Sippen unter einem Matriarchat und Patriarchat lebten – mit welchen Folgen für Fortbestehen, wie es zu Klassenbildung kam, welche dann ungleiche hierarchische Gesellschaften hervorbrachten.

Es ist gewusst dass die besprochene Frage ideologisch durch Theorien genährt werden kann; die Besprechung in diesem Buch invalidiert bestimmte Ansichten, insbesondere jene die Rassen bewerten. 

Der Titel des Buches “Meine europäische Familie” scheint diese Idee von genetischer Vermischung und die Europäer als Mischlinge zu privilegieren. Auch weil die Forschung anhand der Gentests und ihren Revelationen, nicht zuletzt im Abgleich mit den bekannten Wanderungsbewegungen in Europa diese Positionen mit Daten und Fakten belegen kann.

Für den Familienforscher der sich Hilfe und Beratung erwartet, ist dieses Buch eine willkommene und ergiebige Ressource. Am Ende des Buch gibt es noch einmal einen ansehnlichen Teil mit Referenzen im Rahmen einer ausführlichen wissenschaftlichen Bibliographie, zusätzlich praktische Informationen zu Gentests beispielsweise, die von Nutzen sein könnten und evidenzbasiert oder aus Erfahrungsdaten herauskristallisiert wurden. 

Auffallend ist der Umstand das es kein Indexregister  (Sach-, Orte-, Personen-, Stichwort-) gibt. Das ist ein bisschen bedauerlich, aber tut dem Buch an sich keinen Abbruch. Auch gibt es keine Tabellen oder Grafiken die zuweilen synoptisch vermittelte Informationen hätten zugänglich machen können.

Man hat den Eindruck dass hier ein ordentliches Sachbuch produziert wurde, mit Inhalt, minutiös zusammengetragen aus der wissenschaftlichen Literatur, abgeglichen mit den Meinungen von Experten und Spezialisten aus den verschiedenen Disziplinen welche die Familienforschung vorantreiben, aber dass das besondere Flair der Publikation da herrührt dass (Entdeckungs-) Reiseberichte die Materie auflockern und bereichern. Und die Autorin versteht ihr Metier: die Erzählung ist locker, zuweilen mit einem Quäntchen Witz versetzt. Und es ist spannend bis zum Ende: denn der interessierte Leser möchte herausfinden was denn nun (heute) mit den Methoden und Mitteln der Wissenschaft, insbesondere der DNA-Test Genetik bewiesen und belegt werden kann.

Persönlich wird mir dieses Buch mein Leitfaden sein für weitere Schritte in der Evaluierung von Gentesten, ein Kompass für bewährte Praktiken, das sicherlich hilft das Ziel einfacher, ohne unnötige Umwege, zu finden. 

Dieses Buch musste jemand einmal schreiben und Karin Bojs hat hier diesbezüglich eine hervorragende Arbeit vorgelegt, die sie mit viel Zeit, Fleiß, fundiertem Wissen aber, und das spürt man auf jeder Seite, vorallem mit Leidenschaft und spürbarer Begeisterung für das Thema brilliant bewältigt hat.

Ein empfehlenswertes Buch zur Einführung in das Thema, und noch mehr. 

PS: Nicht überraschend erscheint heute am 03. Oktober 2022 die Vergabe des Nobelpreises für Medizin an den schwedischen Evolutionsforscher und Paläogenetiker Dr Svante Pääbo. Autorin Karin Bojs widmet den Arbeiten von Prof Svante Pääbo der derzeit am Max-Planck-Institut in Leipzig arbeitet und seinen Erkentnissen einen breiten Raum in ihrem wegweisenden Buch “Meine europäische Familie: Die ersten 54000 Jahre” und diese prominente Vorgehensweise gibt auch ihr heute Recht.

Goodreads | “Meine europäische Familie: Die ersten 54000 Jahre” Rezension – Marc ZEIMET

Reference:

BOJS Karin Meine europäische Familie Warum wir alle miteinander verwandt sind. 2021. 2. unveränderte Auflage. Aus dem Schwedischen von Maike Barth und Inge Wehrmann. 431 S., Bibliogr. u. Reg., 14,5 x 21,5 cm, Broschur. wbg Paperback, Darmstadt. ISBN 978-3-534-27329-4.

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