Aus meiner Kindheit habe ich liebevolle und freudige Erinnerungen an meine Patentante Virginie. Sie hatte früh erkannt, dass ich ein wissbegieriger Junge war, und schenkte mir zu allen möglichen Anlässen Bücher. Sie wusste genau, was zu mir passte. Viele dieser Bücher habe ich wie einen Schatz gehütet, sie in meiner Bibliothek prominent aufgestellt und die meisten besitze ich noch heute – gepflegte Unikate, die für mich einen besonderen Wert haben.
Ein Set von Lexika, das sie mir schenkte, als ich noch in der Grundschule war, ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Ich las diese Lexika wie ein einziges Buch. Jedes Wort, das erklärt wurde, weckte mein Interesse, öffnete mir ein Fenster zur Welt und offenbarte mir neue Aspekte des Wissens, die ich mit Begeisterung aufnahm und in meinem Gedächtnis speicherte. Ihre Geschenke waren eine wertvolle Ressource, die meinen Wissensdrang stillten und mein Herz erfreuten – bis der nächste Geburtstag, der nächste Namenstag, das nächste Oster- oder Weihnachtsfest mir wieder die Gelegenheit boten, reichlich beschenkt zu werden.

Mit Spielsachen konnte ich weniger anfangen. Einmal schenkte sie mir ein Miniatur-Geländefahrzeug, das sie sicher eine Stange Geld gekostet hatte. Ich versuchte, die Eigenschaften und Funktionen dieses Spielzeugs zu erkunden, doch es war mir zu schade, es zu benutzen. Stattdessen stellte ich es als Andenken an die Güte meiner Tante auf das Abdeckbrett des Heizkörpers in meinem Kinderzimmer – und dort steht es noch heute.
Ein weiteres Buch, das ich heute noch lebendig vor Augen habe, ist eines über die Olympischen Spiele von 1974. Natürlich standen der Sport und die Wettkämpfe im Mittelpunkt, doch das Attentat, das damals die Welt erschütterte, zog mich aus meiner kindlichen Naivität heraus und öffnete mir die Augen für die Schrecken von Gewalt und Terrorismus. Ich habe immer wieder die Berichterstattung in diesem Buch nachgelesen und die erschütternden Bilder dieses Vorfalls angesehen – ein Erlebnis, dessen Auswirkungen ich bis heute nicht vollständig in Worte fassen kann.
Und dann sind da noch die regelmäßigen Grußkarten, die meine Tante uns zu Geburtstagen und Namenstagen schickte. Sie hatte ein feines Gespür dafür, was uns gefallen würde: Mecky-Karten mit humorvollen Sprüchen, die heute noch auf eBay für Sammler angeboten werden. Diese Karten sind für mich heute ein bleibendes Symbol ihrer Fürsorge und Zuwendung. Sie dachte an uns, kümmerte sich um uns, teilte ihre Ratschläge und Ansichten. Ihre Empathie und ihr großes Herz sprachen durch jede Geste, jede Handlung und jedes Wort.
Mit der Zeit entwickelte sich eine weitere Facette von Virginie. Sie arbeitete als Modedesignerin in einem exklusiven Geschäft in Luxemburg-Stadt, dem ‘Paris Fourrure’. Neben großen Marken führte das Geschäft auch hochwertige Modeartikel von Pierre Cardin – immer stilvolle Kleidersets, die den Charme von Luxus ausstrahlten. Zu besonderen Anlässen wie Geburtstagen oder Weihnachten konnte man sicher sein, ein Geschenk von Virginie zu erhalten: einen Schal mit den berühmten Insignien von Pierre Cardin. Diese Erwartung wurde nie enttäuscht. Wenn es nicht der Schal war, dann ein edles Hemd oder ein stilvoller Pullover – immer perfekt ausgewählt, immer passend zu unserem Stil.
Virginie hatte ein untrügliches Gespür für Mode und Design. Sie wusste genau, was gut aussah und welche Kleidung sich harmonisch in das Gesamtbild einfügte. Ihre Auswahl war nie zufällig; sie hatte ein Talent, das weit über das bloße Einkaufen hinausging. Und das Beste daran: Sie blieb auch nach dem Kauf unsere persönliche Modeberaterin. Sie wusste, wie man ein Kleidungsstück perfekt in Szene setzte, damit es nicht nur getragen, sondern auch bewundert wurde. Sie gab immer wertvolle Tipps, wie das Outfit das Beste aus uns herausholen konnte – ob es den Look verstärkte, uns erstrahlen ließ oder ein besonderes Statement setzte.
In gewisser Weise war sie unsere ganz persönliche Stilberaterin – und das völlig kostenlos. Ihr einziges Ziel war es, dass wir uns wohl und erfolgreich fühlten. Diese Art von Unterstützung war ein echtes Geschenk, das wir nicht oft genug schätzen konnten.
Virginies Norwegenreise: Erinnerungen, die in Souvenirs lebendig bleiben
Es gibt viele Erinnerungen an meine liebe Patin Virginie, und eine davon, die jetzt aus der Tiefe meines Gedächtnisses wieder lebendig wird, ist eine Reise, die sie mit ihrer langjährigen Freundin Rolli K. aus Greiveldingen unternahm. Die Reise führte sie hoch in den Norden Europas – mit dem Flugzeug nach Oslo, von dort eine Rundreise zu den Fjorden, den Bergen, nach Trondheim und Lillehammer, und schließlich zurück in die norwegische Hauptstadt. Ich erinnere mich daran, wie Virginie oft von den Naturschauspielen Norwegens erzählte und ihre Augen dabei glänzten. Dass sie in Lillehammer an mich und meine Geschwister gedacht hat, zeigen noch heute die Souvenirs, mit Motiven dieser olympischen Stadt, die sie uns von dort mitbrachte. Für mich war es ein Leder-Buchzeichen, auf dem Sehenswürdigkeiten aus Norwegen eingestanzt sind, unter anderem das berühmte Radhuset (Stadt-Rathaus | City Hall) in Oslo in dem der Friedensnobelpreis überreicht wird. Später – Anfang der 90er Jahre , als ich mit meinem Bruder Claude nach Uppsala in Schweden zu einer Sommeruniversität fuhr und wir einen Stopp in Oslo machten, war es mir ein spontanes Anliegen, diese Gebäude zu besichtigen. Ich bin sicher, dass ich von dieser Darstellung auf dem Lesezeichen angetrieben wurde – ein Gebäude, das für mich eine persönliche Bedeutung hatte.
In Lillehammer gab es einen Stopover auf Virginie’s Rundreise, denn von dort brachte sie für meine Geschwister Miniatur-Darstellungen von Robben mit, mit echtem Tierfell. Auch an große weiße multifunktionale hölzerne Bleistifte erinnere ich mich, an denen die norwegische Fahne als Anhänger an einem Radiergummi befestigt war. Diese Gegenstände waren damals ein echtes Highlight – besonders Anfang der 70er Jahre, als solche exotischen Reiseartikel sicher Bewunderung und Neid auf sich zogen, wenn man sie in der Schule zeigen konnte.
Ja, meine Patentante war, in ihren jungen Jahren, immer sehr reiselustig, und ich erinnere mich auch an einen unvergesslichen Aufenthalt in Wildhaus in der Schweiz auf den sie mich mitnahm. Es war wohl das erste Mal, dass ich in der Ostschweiz war, den hohen Schnee erlebte und die imposanten Berge hautnah bestaunen konnte. Das war ein Erlebnis voller Ehrfurcht.
Hat sie meine eigene Reiselust geweckt? Das ist durchaus möglich. Aber immer wieder denke ich, in dieser Hinsicht, an meinen Großvater Nic, der in Bous den respektvollen Kosenamen „Kéipleien“ trug und in seiner Sorge um seine älteste Tochter Maria nach Leysin reiste, um sie im Sanatorium zu besuchen. Leysin liegt im Hinterland des Lac Léman, und in den 1920er Jahren, mit begrenzten finanziellen Mitteln, war es eine Reise, die Mut und Talent zum Weltreisenden verlangte. Es erfordert Respekt, so eine Reise zu unternehmen – Hut ab! Reisen scheint in den Genen der Familie zu liegen, wie mir scheint, zumindest mütterlicherseits, in grader Linie von meinem Großvater Nic, über meine Tante Virginie, bis zu mir und meinem Sohn Tom.