Ein seltenes Lichtbild aus dem Anfang des vorherigen Jahrhunderts das eine street-view Ansicht einer Hauptstraße in einem Dorf mit ländlichem Charakter zeigt. Wie stellt sich diese selbe Wohnstraße heute dar? Fragen Sie einfach mal Google Maps und Google Street View Dienste? Wie hat sich das Leben der Menschen und deren Wohnverhältnissen verändert? Alles zum Besseren?
Was wurde aus der Dorfgemeinschaft, der Nachbarschaft, der Hilfsbereitschaft, dem Vereinsleben? Oft wird beklagt, dass auch kleinere und überschaubare Wohngebiete an der Individualität der Bewohner-innen langsam aber sicher in quasi anonyme Wegpendlersiedlungen verkümmern.
Und hier eine grobe Analyse mit einem ersten Denkansatz: Soll es so weitergehen wie bisher? Urbanistische Projekte in den Dörfern umsetzen, die weiter versiegeln, bestehende mineralische Bausubstanz bestenfalls verputzen, hin- und wieder verschönern, aber dennoch auf alten, traditionellen und sicherlich weitgehend überkommenen Konzepten beruhen oder ist ein strategisches Umdenken erfordert, der einen radikalen Paradigmenwechsel für die zukünftige Dorfentwicklung beinhaltet. Das Dorf als echter “Lebensraum” konzipiert für Nachhaltigkeit, mit sogenannten ‘Shared Spaces’, Wege, die frei und prioritär für Fußgänger, Spaziergeher, Radfahrer, Fahrzeuge der sanften Mobilität ausgelegt sind.
Wie das aussehen kann, muss sich noch ergeben, finden sich aufgrund von ‘Trial and Error‘ Angehensweisen. Sicher ist auch, dass ein soziokultureller Mentalitätswandel erfolgen muß bezüglich des Zusammenlebens in solchen Dorfsiedlungen. Das Abdriften in immer weiter entpersönlichte, quasi anonymisierte Nachbarschaften muß denn auch über Zeit umgekehrt werden. Neue Formen des Zusammenlebens andenken, diskutieren, konkrete Maßnahmen entwerfen: das wäre schon ein wichtiger erster Schritt.
Ist es nicht bezeichnend für eine unklare, bis richtungslose Gemeindepolitik, dass es Gemeinden geben soll in denen es im Jahr 2023 keine öffentliche Bibliothek, kein Museum über die Lokalgeschichte, keine Fotosammlung (Photothek) über Menschen, Örtlichkeiten, Geschichte und relevante Ereignisse gibt? Wie kann denn die Zukunft gestaltet werden, wenn man tagein tagaus im Ephemeren lebt und agiert, und vor allem sich nicht auf seine Wurzeln und Wissens- und Erfahrungsschatz aus der Vergangenheit besinnen und stützen kann.
Ein Hof voller Leben: Kindheitserinnerungen an „An Schoulesch“
Es gab Bauernhöfe, die an majestätische Herrenhäuser angrenzten und eine besondere Ausstrahlung hatten. Für uns Kinder waren es jedoch andere Dinge, die uns anzogen, als für die Erwachsenen. Ich kann für mich sagen: Vor allem die dort lebenden Tiere – Hunde und besonders Katzen – hatten es mir angetan. So war es auch auf dem Hof „An Schoulesch“.
„An Schoulesch“ war ein kinderfreundliches Anwesen – nicht zuletzt dank eines alten, mürrischen, aber dennoch sympathischen Junggesellen. Er war streng, aber gerecht, und besaß eine unerwartete Empathie.
Der Hof lag an der Hauptstraße zwischen Ober- und Unterdorf und war imposant in seiner Struktur: ein großes Gehöft mit einem quadratisch angelegten Innenhof, fast wie eine römische Villa. Hier herrschte reges Treiben – Viehställe für Kühe und Rinder, Lagerräume für Getreide und Futtermittel sowie eine Schar von Katzen und der treue alte Hund Mexx prägten das Bild.
Wir Kinder liebten den Hof, weil wir dort willkommen waren und am Leben teilhaben konnten. Die etwas älteren Kinder der Hof-Familie akzeptierten uns, und es gab eine enge Verbindung zwischen unseren Familien: Der Hofherr war ein Schulfreund meines Vaters, seine Frau stammte wie meine Mutter aus der Moselregion. Es waren diese Verbindungen – Freundschaften und Vertrauensverhältnisse auf Augenhöhe –, die das Dorfleben prägten.
Damals war das Leben im Dorf klar strukturiert: Jeder kannte jeden, die Grenzen zwischen privaten und gemeinschaftlichen Räumen waren durchlässig. Man half und unterstützte sich, hatte engen Kontakt zueinander – weit weniger distanziert als das, was wir heute erleben.
Die Seele des Schweins – Der Tag, an dem ich an allem zweifelte.
An was erinnere ich mich noch aus dieser Zeit? Das eindrücklichste Erlebnis war wohl die erste Schlachtung eines Hausschweins, die ich in meinem Leben miterlebte.
Ich sehe es noch genau vor mir: ein Schwein, aufgezogen auf dem Hof, bestimmt als Fleischlieferant für die große Familie. Die Schlachtung war für mich als kleinen Jungen eine Art “Rite de passage”. Neugierig, voller Wissensdurst und Faszination für die Welt in all ihren Facetten, hatte ich beschlossen, mir dieses vermeintlich schaurige Ereignis aus sicherer Entfernung anzusehen.
Im Dorf gab es einige Männer, die sich mit dem Schlachten auskannten. Einer von ihnen war Baach Jengi, der traditionell bei den „Schoulesch“ zum Einsatz kam. Nicht nur war er über die Ehefrau des Hofherrn mit der Familie verwandt, er galt auch als erfahrener und respektierter Schlachter.
Das Tier wurde aus dem Stall geführt und an die Schlachtbank gebracht. Es schien zu ahnen, was bevorstand. Das war für mich gleichermaßen faszinierend wie herzzerreißend. Doch Mitleid gab es nicht. Keine Verhandlung, keine Alternative, keine Diskussion. Ich erinnere mich, wie ich in diesem Moment dachte: Sollte ich nicht anfangen zu weinen oder nie mehr Fleisch essen? Aus Solidarität mit den Tieren, die ich liebte? Als stiller Protest gegen diese brutale Notwendigkeit?
Mit einem speziellen Schießgerät wurde das Schwein durch einen Kopfschuss getötet. Dann folgte der Todeskampf – eine Szene, die sich tief in mein Gedächtnis brannte. Kochendes Wasser wurde über den Körper gegossen, um die Borsten zu entfernen. Ein entsetzliches Schauspiel. Wie konnte ich, ein sensibler Junge, dieses Prozedere mit ansehen, es ertragen, es in meiner Gefühlswelt verarbeiten?
Der Moment, der mich vollends überforderte, kam, als Baach Jengi den Bauch des toten Tieres mit großen, präzisen Schnitten öffnete. Die Innereien wurden entnommen. Dann griff er mit ruhiger Selbstverständlichkeit nach einem kleinen Stück Gewebe, hielt es mir hin und fragte: „Weißt du, was das ist?“ Ich antwortete nicht – zu erschrocken, zu gelähmt von dem, was hier geschah. Er klärte mich auf: „Das ist die Seele des Schweins.“
Das war zu viel. Hatte ich nicht immer gehört, dass Tiere keine Seele besitzen? Unser Pfarrer hatte es uns eingebläut, und niemand wagte, etwas anderes zu behaupten. Doch nun hielt mir Baach Jengi die Seele eines Schweins buchstäblich vor Augen. War ich belogen worden? Oder wurde ich hier vorgeführt? Oder geriet mein gesamtes, bis dahin unerschütterliches Glaubenssystem ins Wanken? Ich konnte diesen Kampf mit den Erwachsenen nicht aufnehmen, konnte ihren Argumenten nichts entgegensetzen. Also tat ich das Einzige, was mir blieb: Ich lief nach Hause.
Es war zu viel für einen kleinen Jungen, der schon damals, geprägt von den Predigten des Pfarrers und den frommen Lehren seiner Mutter, genau wusste, welche Konsequenzen Gotteslästerung haben würde. Das hier war, in meinen kindlichen Augen, nichts weniger als ein Sakrileg. Ein Verhöhnen all dessen, was mir als heilig vermittelt worden war. Eine Provokation gegen Gott.
Tage später, als die ersten Schockwellen dieses Erlebnisses langsam abebbten, erzählte ich meiner Mutter davon. Ich schilderte ihr jedes Detail: wie ich die Schlachtung mit angesehen hatte, wie Baach Jengi mir die vermeintliche Seele des Schweins gezeigt hatte, und wie er dieses Stück Fleisch dem alten Hofhund Mexx vor die Pfoten geworfen hatte, der es mit einem einzigen Bissen verschlang.
Ich erwartete Empörung, Bestürzung, vielleicht eine moralische Standpauke. Doch meine Mutter blieb ruhig. Das erstaunte mich, war sie doch in religiösen Fragen nicht gerade für ihre Liberalität bekannt.
Stattdessen erklärte sie mir mit einer Schlichtheit, die mich gleichermaßen beruhigte wie beschämte: „Es gibt ein kleines, zartes Stück Fleisch im Körper des Schweins, das als ‘Seele’1 bezeichnet wird. Es wird nicht von Menschen gegessen. Man schneidet es heraus und entsorgt es.“
So einfach. So banal. Kein Mysterium, keine göttliche Verwirrung, keine theologische Katastrophe. Und doch hatte es mich für Tage in Angst versetzt. Ein Kind mit einem zu wörtlichen Verständnis der Dinge, gefangen zwischen Glauben und Wirklichkeit.
Bibliographie:
HENKEL Gerhard – Das Dorf. Landleben in Deutschland – gestern und heute. (2020) Erhältlich im Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb) Shop.
- In der Tat, wenn Schweine geschlachtet und zerlegt werden vom Metzger, dann wird im Oberkörper des Schweines ein kleiner Teil als “Seele” geortet, ausgeschnitten und entsorgt. Aber, um welches Teil handelt es sich hier?
Das, was Metzger als „Seele“ bezeichnen, ist eine Drüse oder ein kleiner Geweberest, der sich im Bereich der Wirbelsäule oder zwischen bestimmten Muskelgruppen befindet. Häufig handelt es sich dabei um Lymphknoten oder das sogenannte „Kammerstück“ – ein Gewebe im Bereich der Brusthöhle oder des Rückens, das aufgrund seiner Konsistenz und möglichen Geschmacksbeeinträchtigung entfernt wird.
Diese Tradition hat weniger mit einer echten „Seele“ im spirituellen Sinne zu tun, sondern eher mit anatomischen Besonderheiten des Schweins, die für den Verzehr nicht geeignet sind. ↩︎