Eine Art Madeleine-Effekt?
Sie erinnern sich an die Passage in Marcel Proust’s epochalen siebenteiligen Literaturwerk, dem Roman mit dem wehmütigen Titel “A la recherche du temps perdu” als er beschreibt wie er ein Stück Zwieback (wird danach als ‘Madeleine’ Feingebäck geführt) in den Tee eingetunkt und der Duft dieser Madeleine lange vergessene Kindheitserinnerungen in ihm erwachte und vor seinem geistigen Auge lebendig machte.
Ja, meine eigenen Kindheitserinnerungen und die Empfindungen, die ich damit verbinde: davon soll die Geschichte dieses Grenzsteins Kunde geben.
In gewisser Weise ging es mir ähnlich, “meine Suche nach der verlorenen Zeit” fing auch einmal in einer rezenten Lebensphase an, als ich mich durch verschiedene Umstände angestachelt mit lokaler Geschichtsschreibung und -forschung befasste. Das fing wohl vor einiger Zeit an mit dem intensiven Austausch mit dem Geschichtsfreund, Dr Carlo Schintgen, seines Zeichens auch mein werter Schwager, der sich seit Jahren, möglicherweise sogar schon zeitlebens, mit Schriftstücken aus seiner Heimatstadt, zum Teil Unikate die über hundert Jahre alt sind, die ihm sein Vater und auch seine Mutter (Tagebuch) hinterlassen haben, editorisch auseinandersetzt. Auch wiederholte Kontakte mit einem anerkannten Archäologen im Lande war ein auslösender Moment für das nunmehr entfachte Interesse an der Lokalgeschichte. Es wurde eine Suche nach den eigenen Wurzeln, nach dem was früher war, die Einflüsse aus Kultur, Geschichte und Sozialem, das in meinem früheren Lebensraum gewachsen war, über Generationen wohl weitergetragen wurde, und glaubt man den neuesten Ansätzen der Epigenetik auch hat “vererbt” werden können.
Alles fing vor etwas mehr als fünfzig Jahren an, als mein verehrter Vater, ein anerkennter, profunder Kenner des regionalen Waldgebietes, mich wiederholt mit auf erlebnisreiche, immer für den wissenshungrigen Sohnemann, der ich war und bin, faszinierende Walderkundungen mitnahm. Es war eine besondere Vater-Sohn-Verbindung, innig, liebevoll, geprägt von gegenseitiger tiefer Schätzung. Und seine Führungen durch die großen Wälder öffneten eine neue Welt für mich: Flora und Fauna, die Lebenswelt des Wildes, die Gefahren, aber dann vor allem die Schönheit der Natur.
Die Suche nach diesem Stein wurde immer mehr zur unumgänglichen Aufgabe, einem sehr persönlichen, nicht weniger emotionalen Unterfangen. Wobei die Symbolkraft des Steines eine prominente Position erlangte. Steine und die ‘Rites de Passage’, oder ähnlich in Religionen, die ein Stein als Markierung für ein Ereignis von Tragweite ansehen. Ein Stein als Andenken an einen Menschen und sein Wirken.
Diesen wichtigen Stein wiederzufinden war dann aber in der Praxis nicht so einfach, wurde zur Odysee durch Wildwuchs, Zonen mit umgefallenen Bäumen, in dem auch noch ein früher vorhandener Grenzgraben der heute, nach menschlicher Hybris-Aktion, zur metertiefen Gracht entartet war. Wo nun diesen Grenzstein finden? Enttäuschung, Trauer und Schmerz fingen an das freudige Erwartungs-Gefühl des Wiedersehens zu verdrängen.
Wäre da nicht mein Bruder Claude Zeimet gewesen, der sicherlich die Naturliebe unseres gemeinsamen Vaters geerbt und in vielen seiner Projekte verinnerlichte, der als Retter in der Not auftauchte. In einem Telefongespräch zur Frage erklärte er unaufgeregt: “Ich kann Dir genau sagen, wo der Grenzstein zu finden ist.” Und in der Tat, seine Beschreibung des Ortes paßte haargenau. Nur, dass der Standort des Grenzsteines in den letzten Jahren unterschwemmt worden war, dann in die neu entstandene Gracht abgerutscht war, heuer mit Boden überdeckt war, und an der noch sichtbaren oberen Fläche, quasi zur Tarnung, mit dünkelgrünem Moos überwachsen war. Nur noch ein scharfsichtiges Adlerauge hätte dieses Kleinod auf dem hochauflösenden Radarschirm haben können.
Ein Happy End am Ende des Tages? Sicherlich. Nun geht es an die Auswertung der Inschrift, die Analyse von Veröffentlichungen zu den Gutshöfen in der Region, die entweder von der Reichsabtei St. Maximin vor Trier und als Nachbarn an einer solchen memorablen Grenze von einer anderen mächtigen, vermögenden und einflussreichen Reichsabtei, jener aus Echternach gehalten, wurden.
Und ein anderer Gedanke kommt einem zwangsläufig: dieser Grenzstein, wohl beschützt durch die Natur, Wald und respektvolle Eigentümer des Grundstücks bewahrte seinen edlen Standort für Jahrhunderte, derweil nicht unweit hiervon sogenannte “Marken” des Katasters, eine zuweilen sehr kurzzeitige Verweildauer haben, und allzu zu oft nicht nur von ihrem rechtmässigen Standort, gesetzeswidrig ausgehoben werden, sondern dann auch noch in einer Nacht- und Nebelaktion “verschwinden”.
“Grenzsteine muss man anbeten”, hatte mal in früherer Zeit ein ehrbarer Grundbesitzer erklärt. Und man kann diesem Menschen nur zustimmen und beipflichten. Grenzsteine sind Zeitzeugen, Teil unserer persönlichen, lokalen und zum Teil nationalen Erinnerungskultur. Und immer sichtbare Zeichen zur Einhaltung des sehr alten Gebotes “Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren das Weib deines Nächsten, seinen Knecht und seine Magd und seinen Ochsen und seinen Esel und alles, was deines Nächsten ist» (2. Buch Mose 20,14)“
Und schlußendlich: Grenzsteine sind so erhabene von Menschenhand geformte Skulpturen in der Natur, ästhetisch schön als Augenweide, ein Gedicht das auf seine sehr eigene, persönliche, Weise zu uns spricht.
Referenzen:
RESMINI Bertram, Dr (2016): Germania Sacra – Dritte Folge. “Die Benediktinerabtei St. Maximin vor Trier. Die Bistümer der Kirchenprovinz Trier. Das Erzbistum Trier 13. Band 11″.
Die Benediktinerabtei St. Maximin zu Trier – Die Diözesen der Kirchenprovinz Trier – Das Erzbistum Trier 13
Internet-Link zum Eintrag. “Die Abtei, die traditionell als eines der ältesten Klöster Westeuropas gilt, soll im 4. Jahrhundert vom heiligen Maximin von Trier gegründet worden sein”.